Helmut Börsch-Supan
zur Eröffnung der Ausstellung »zwischen Sitzen und Liegen« am
16.11.2010
Wäre Maria Dunkel nicht, dann gäbe es kein Gedenken an den 85.
Geburtstag von Joachim Dunkel, keine durch die Tatkraft von
Wilfried Karger zustande gekommene Ausstellung und keinen
Sammelband zu Leben und Werk des Bildhauers, es gäbe nur die
vielfältigen Begegnungen der Einzelnen mit dem Werk und das
rasche Aufblitzen der Erinnerungen, die dann wieder überlagert
werden von weiteren. Die Fähigkeit von Maria Dunkel, andere zu
einem Engagement für das Werk ihres Mannes zu bewegen, auch für
ein finanzielles, ist bewundernswert. Der hier aus der Taufe zu
hebende Sammelband mit Beiträgen von 27 Autorinnen und Autoren
ist der beste Beweis für dieses Organisationstalent. Diese Sätze
müssen am Anfang meiner Rede stehen, denn ihr Sinn kann nur der
sein, dem gewaltigen Kunstvernichtungsmechanismus
entgegenzuwirken, der die Kehrseite der überbordenden
Kunstpropaganda ist. Die zentrale Frage in diesem
sinnbetäubenden Getöse bleibt für mich die: Was ist Qualität?
Wie hängt die Qualität der Form zusammen mit der menschlichen
Qualität, mit der unsere Gesellschaft steht und fällt?
Einen gewissen Zorn kann ich nicht unterdrücken. Wir haben in
Berlin drei angesehene Museen, die für diesen Bildhauer
zuständig sein müßten: die Nationalgalerie, die Berlinische
Galerie und die Stiftung Stadtmuseum. Alle drei kümmern sich
nicht um Dunkel. Man vergleiche die Fürsorge, die Wieland
Förster von seiner Heimatstadt Dresden erfährt. Aber: Det is
Berlin. Nur da, wo es unbedingt sein muß, schaut die Stadt
zurück, sonst taumelt sie unter dem Beifall der Medien
zukunftsbesoffen kopfüber nach vorn. Umso wichtiger sind die
privaten Widerstandsgruppen. Eine vom Marktgeschehen bestimmte
Gesellschaft – das ist ja die unsere – beantwortet die
Qualitätsfrage ganz einfach: gut ist das, was hoch gehandelt
wird. Aber das Wort handeln hat zum Glück immer noch eine
doppelte Bedeutung, und handeln, wie ich es verstehe, sollte
immer an ein Sehen und Nachdenken gekoppelt sein.
Unsere Lebenserfahrung sagt uns, daß es menschliche Maßstäbe
auch in der Kunst gibt, unabhängig von Preisskalen,
Gehaltslisten, Hackordnungen und Beliebtheitsstufen
irgendwelcher uns ständig präsentierter Stars. Kunst, auch da,
wo das Tier dargestellt ist oder meinetwegen der Minotauros,
erhebt den Anspruch, auch nach menschlichen Maßstäben beurteilt
zu werden. Welchen Blick werfen wir eigentlich auf die Rentiere
im Hamburger Bahnhof? Gibt es, wenn eine Übernachtung in der
dortigen Bettenlandschaft 1000 Euro kostet, einen Zusammenhang
zwischen Rentieren und rentieren?
Das Mißverhältnis zwischen der Möchtegernelite und der
hauchdünnen Schicht in den Führungspositionen, zu denen man gern
aufschaut, ist beängstigend und fordert eigentlich zum Handeln,
zu revolutionärem Handeln auf. Der Schulterschluß von Udo
Lindenberg und Christian Wulf ausgerechnet in der
Schinkel-Kirche von Neuhardenberg hat fatalen Symbolcharakter.
Was hat das mit Joachim Dunkel zu tun? Ich denke: sein Werk gibt
Maßstäbe, die wir dringend benötigen, an die Hand, und es lehrt
uns, Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen, in die wir
verwickelt sind. Bei aller Vorsicht mit Superlativen glaube ich
doch, mit guten Gründen behaupten zu können, daß Joachim Dunkel
der beste West-Berliner Bildhauer seiner Generation war, seiner
Generation, d.h. derjenigen, die durch das mit der
Naziherrschaft verknüpfte Inferno der Kriegszeit im Innersten
erschüttert worden ist und im Wortsinn todernst war. In dieser
Einschätzung stehe ich nicht allein.
Vor dieser düsteren Folie steht das von den Vertretern einer
Spaßgesellschaft nicht mehr nachvollziehbare künstlerische
Ringen Dunkels, in das er fast seine ganze Lebensenergie
steckte, stecken mußte. Damit hängt es zusammen, daß er so gar
nichts von einem Star hatte. Ich habe ihn stets als einen mit
sich und oft auch mit seiner Umwelt Unzufriedenen erlebt, der
sich aber unaufhörlich anstrengte, diesen Zustand zu überwinden.
Er verschleierte dieses Unbehagen mit einem eigenartigen
rücksichtsvollen Humor, der wie ein nasses Tuch eine Tonfigur
vor dem Zerbröckeln bewahrt.
Nun zur Ausstellung, für die Maria Dunkel und Wilfried Karger
ein zunächst überraschendes, bei genauerem Hinsehen jedoch ins
Zentrum von Dunkels Denken führendes Thema gewählt haben:
„zwischen Sitzen und Liegen“.
Am Eingang – vielleicht haben es nicht alle bemerkt – steht ein
Werk des 23-Jährigen von 1948, vom Beginn seiner Tätigkeit als
Bildhauer. Es ist ein kleiner liebenswürdiger Stier, den man
streicheln möchte, so sanft sind die Wölbungen seines Körpers,
der zwar mit wenig Bodenhaftung dennoch fest auf seinen vier
Beinen steht. Den originalen Gips hat Maria Dunkel in Bronze als
Auflagenstück gießen lassen. Man bemerkt den Heiliger-Schüler.
Das Auge ist ein Loch, auch wenn die Augäpfel nicht da sind,
blickt das Auge vor dem Hintergrund der hellen Wand.
Die Achtungsechziger haben der deutschen Nachkriegskunst
vorgeworfen, harmlos und harmoniebedürftig gewesen zu sein. Sie
konnten nicht begreifen, daß man nach 1945, zumal als
Kriegsteilnehmer, in den Städten das Grauen hinter sich lassen
und erst einmal leben wollte. Der Sprung von diesem Frühwerk
über zwölf Jahre zu dem kleinen rostigen Minotaurus auf einem
Stück Eisenbahnschiene ist dann ein gewaltiger. Der Unhold
sitzt, fast thront er, gewalttätig mit mächtigem Oberkörper und
bösem Blick, während die Unterschenkel wegzuschmelzen scheinen.
Das ist Erinnerung an den Krieg.
Das Minotaurus-Thema hat Dunkel immer von neuem in Zeichnung und
Skulptur beschäftigt. Er ist das böse Tier im Menschen,
Gefangener im Labyrinth und sein gefräßiger Beherrscher. Keine
der hier als Skulptur oder Zeichnung vergegenwärtigten
Menschengestalten – es sind ausnahmslos Frauen, die übrigens
alle mit Sympathie gesehen sind - sitzt so. „zwischen Sitzen und
Liegen“, das heißt, daß sie sich in einem Zwischenzustand
befinden, sich verwandeln, letztlich sterblich sind.
Denken wir noch einmal an die mythische Gestalt des Minotaurus
zurück, dann stehen die Wurzeln der abendländischen Skulptur,
die Werke der Griechen vor unseren Augen. Statuen, aus Marmor
gemeißelt oder in Bronze gegossen, sind Standbilder und als
solche sind sie auch Vorbilder, ja sie können Götter sein. Wenn
die Figuren als handelnde dargestellt sind, strahlen sie häufig
Ruhe und Dauer aus. Säulenhaft sind die Dargestellten in der
Lage, wie die Koren des Erechtheion, ein Gebälk zu tragen.
Nichts davon bei Joachim Dunkel, der sich gleichwohl in einer
Tradition sah. Denn er war keiner, der etwas ganz anderes machen
wollte. Es gibt in diesem Raum eine Frauenfigur, die gewiß ein
Zitat ist. Sie erinnert mit ihrem hochgestellten linken Bein und
der Drehung des Oberkörpers unmittelbar an Michelangelos „Nacht“
vom Grabmal des Giuliano de Medici in Florenz. Diese Frau hier
hat keinen festen Halt. Sie läuft Gefahr, auf ihrem flach
geneigten Giebelstück abzurutschen und ihr nicht sichtbarer
linker Arm läßt an einen Torso denken. Das ruhige, beruhigt
ausgestreckte Liegen, das Schlafende und Tote - in der Skulptur
als natürlicher Gegensatz zum aufrechten Stehen (man denke an
Rauchs Luisenmonument im Charlottenburger Mausoleum) - war kein
Motiv für Joachim Dunkel. Wo eine Figur, wie hier im Zentrum des
Raumes, auf einer Bronzeplatte liegt, ragt ihr Oberkörper über
den Rand hinaus, als strebe die Frau aus der Mitte weg. Es gibt
Zeichnungen, wo die menschliche Figur in ähnlicher Weise eine
„Randerscheinung“ ist. Man mag das exzentrisch nennen, doch
steht dahinter keinesfalls die Absicht, durch etwas
Außergewöhnliches, gewissermaßen dalí-haft aufzufallen, zu
verblüffen, sondern eine Unrast wird deutlich, ein unablässiges
Suchen zum Ausdruck zu bringen. Die Liegenden sind durch das
Bemühen gekennzeichnet, sich aufzurichten, ihre Lage zu
verändern. Man muß sich die Frage stellen, in welchem Maße sich
der Bildhauer mit seinen Frauengestalten identifizierte. Ich
glaube nicht, daß sie für ihn Objekte waren.
Das Gestalten einer Figur hatte für Dunkel etwas zu tun mit dem
Gestalten von Leben, mit ständiger Veränderung. Das war ihm eine
Aufgabe, ein Problem, und er suchte es durch Arbeit zu
bewältigen. Da blieb wenig Raum für Eitelkeit und Selbstgenuß.
Ein Wort noch zu den stützenden Beigaben und Standplatten. Es
sind bisweilen Fundstücke aus anderem Material als dem der
Skulptur. Im Fall der großen Sitzenden ist es ein Thonetstuhl,
auf dem die Frau Platz genommen hat, die Beine vorgestreckt, den
Kopf nach oben gewendet – ein in den Raum greifender Torso. Der
Stuhl als ein Stück außerkünstlerischer Realität überrascht und
macht bewußt, das die Figur einer anderen Welt angehört. Körper
und Fremdkörper stoßen zusammen. Beim Eisernen Minotaurus ist
ein Stück Eisenbahnschiene die Stütze der Figur. Manchmal
entsteht der Eindruck einer äußerst labilen Unterlage, da etwa,
wo Bronze auf einem morschen Holzstück ruht, das im Wasser
gelegen hat und so zu einem weichen Polster geworden ist.
Solche Kombinationen enthalten einen Witz, aber dieser hat stets
etwas Bodenloses; er gerät nie zum Gag. Läuft der Minotaurus
Gefahr, von einer Eisenbahn überfahren zu werden? ( Blockiert er
die Schiene gegen den Castor-Transport?)
Die Ausstellung bietet eine Facette aus dem Schaffen des
Bildhauers und diese kann ich nur flüchtig behandeln. Was
Joachim Dunkel sonst noch alles war und ist, verdeutlicht der
heute hier vorgestellte Sammelband „Dunkel's Geheimnis“ mit
seinen zahlreichen Erinnerungen an den Künstler aus ganz
unterschiedlichen Blickwinkeln. Hier kommen Künstlerkollegen wie
Carl-Heinz Kliemann – der Nestor in diesem Kreis - und Dietmar
Lemcke zu Wort, Schüler, die über den Lehrer berichten, Freunde,
Kunsthistoriker. Hervorgehoben sei der auf umfassender Kenntnis
des gesamten Dunkel-Œuvres beruhende Aufsatz von Karl Arndt über
die zehn plastischen Kreuzigungsgruppen und verwandte biblische
Motive in seinem zeichnerischen Werk. Dieser Text ist nicht
zuletzt deshalb wichtig, weil er Wurzeln bloßlegt, die man heute
im allgemeinen lieber verdrängt. Ohne die erlebten Schrecken des
XX. Jahrhunderts wären diese grausamen Hinrichtungsszenen wohl
nicht gestaltet worden.
Darüber hinaus kommt im Sammelband auch Joachim Dunkel selbst zu
Wort. Viel bisher unbekanntes Bildmaterial, besonders aus der
Frühzeit, ist erstmals veröffentlicht. Maria Dunkel listet
dennoch in ihrem knappen Nachwort auf, was alles nicht berührt
ist.
Es wäre allmählich an der Zeit – ehe wichtige Zeitzeugen
verschwinden – Dunkel in einer Gesamtschau mit allen Facetten
seines Künstlertums vorzustellen, nicht um ein Geheimnis zu
lüften, sondern um die menschlich-künstlerische Substanz in
diesem Werk aufzuzeigen und sie für die Zukunft fruchtbar zu
machen. Der Sammelband wäre dafür eine unentbehrliche Quelle.
16. November 2010
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